Sebastian Nordmann: <br>Zu gerne hätte ich Horowitz oder Dinu Lipatti live bei uns erlebt Персона

Sebastian Nordmann:
Zu gerne hätte ich Horowitz oder Dinu Lipatti live bei uns erlebt

Das Berliner Konzerthaus, das sich im Herzen der deutschen Hauptstadt am Gendarmenmarkt befindet, ist zweihundert Jahre nach seiner Gründung einer der wichtigsten Orte auf der musikalischen Landkarte nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa. Hier finden mehr als fünfhundert Konzerte pro Jahr statt. Auf dem Programm stehen nicht nur Klassiker, sondern auch Werke zeitgenössischer Komponistinnen und Komponisten.

Das Programm der Saison berücksichtigt in der Regel nicht nur den Geschmack der Anhänger klassischer Partituren von Komponisten vergangener Epochen, sondern auch den progressiven Teil des Publikums, dem es Spaß macht, aktuelle Kunst zu entdecken.

Seit 2009 ist Sebastian Nordmann (SN) Intendant des Konzerthauses – ein energischer Manager mit musikwissenschaftlicher Ausbildung und dem großen Wunsch, verschiedene Formate der Interaktion mit dem Publikum zu entwickeln. Wie das Konzerthaus zu Beginn seines 201. Jahres lebt, erzählte er Julia Chechikova (JC).

JC Welchen Platz nimmt das Konzerthaus Ihrer Meinung nach im modernen Kulturleben der deutschen Hauptstadt ein?

SN Berlin ist eine, wenn nicht die Musikhauptstadt der Welt mit seinen sieben großen Orchestern, den zwei Konzert- und drei Opernhäusern. Diese große Konkurrenz ist natürlich ein Ansporn für uns, tatsächlich jeden Abend ausgezeichnet zu spielen, denn das Publikum erwartet in Berlin einfach ein sehr hohes Niveau.

Haus und Orchester blicken auf eine besondere Geschichte zwischen Ost und West zurück. Mit Kurt Sanderling hatte es während der prägenden Gründungsjahre einen Chefdirigenten, der die Zeitläufte wie wenige andere verkörpert hat. Im neuen Jahrtausend standen und stehen mit Iván Fischer und Christoph Eschenbach hochrenommierte Künstler an unserem Chefdirigentenpult, die dafür sorgen, dass wir allen Erwartungen an musikalische Sternstunden gerecht werden. Dass wir über die Jahrzehnte mit die höchste Zahl an Abonnements halten konnten und damit auf 10.000 treue Besucherinnen und Besucher bauen können, ist ein deutliches Zeichen, dass das Konzerthaus Berlin eines der großen Häuser im Musikleben nicht nur Berlins ist.

Wir blicken also frohgemut auf die nächsten Jahre und sind gespannt auf den nächsten Stabwechsel, der auch ein Generationswechsel wird: Joana Mallwitz kommt 2023/24 als neue Chefdirigentin an den Gendarmenmarkt.

JC Das vergangene Jahr war ein Jubiläumsjahr für das Konzerthaus Berlin. Konnten Sie die meisten der geplanten Aktivitäten umsetzen? Hat die Situation, die durch die Corona-Krise verursacht wurde, den ursprünglichen Plan geändert?

SN Leider macht das Virus auch vor den schönsten Plänen für ein großes Jubiläum nicht halt. Selbstverständlich mussten wir viele Konzerte verschieben und manche absagen. Das wichtigste war uns, den Höhepunkt der Saison zu retten: La Fura dels Baus, die bekannte Theatertruppe aus Barcelona, sollte bei uns Webers „Freischütz“ neu inszenieren, denn diese Oper hatte im 18.  Juni 1821 im damaligen Schauspielhaus, unserem heutigen Konzerthaus, ihre Uraufführung. Das haben wir mit viel Kreativität und Flexibilität geschafft. Auch für andere Formate haben wir die Bestuhlung im Großen Saal ausgebaut, dem Publikum vor den Bildschirmen eine besondere Lichtregie geboten oder im Sommer Konzerte als Open Air gespielt, mit dem Konzerthausorchester auf unserer berühmten Freitreppe und dem Publikum auf dem Gendarmenmarkt.

JC Im März findet eine Reihe von Konzerten im Konzerthaus statt, die der Persönlichkeit und dem Werk von Schostakowitsch gewidmet sind. Was ist das Konzept dieses Festivals?

SN Seit den 1960er Jahren gibt es bei uns am Haus eine besondere Schostakowitsch-Tradition, die dazu führte, dass in Berlin auch schon von „DEM Schostakowitsch-Orchester“ gesprochen wurde. Begründet hat sie natürlich Chefdirigent Kurt Sanderling, der bis 1960 in Leningrad/St. Petersburg bei den dortigen Philharmonikern wirkte und Schostakowitsch persönlich verbunden war. Er hat die Spielkultur des Orchesters sehr geprägt, insbesondere natürlich im Hinblick auf dessen Werke. Seitdem stehen sie bei uns regelmäßig auf dem Programm von Experten wie seinem Sohn Michael Sanderling oder Dmitrij Kitajenko, die die Tradition fortführen.  Unsere Hommage soll jedoch nicht nur den Sinfoniker Schostakowitsch zeigen, sondern ein weites Spektrum, darunter Kammermusik, Stummfilm-Musik und Jazz.

JC Soweit ich weiß, hat der Komponist Leonhard Kuhn im Auftrag des Konzerthauses das Stück „Schostakowitsch’s Breakdown“ geschaffen, und die Jazzrausch Bigband wird es aufführen. Wie kam es zu dieser Initiative?

SN Bei Bonner Beethoven-Fest 2021 hat das Ensemble zum 250. Geburtstag einen „Breakdown“ aus Musik dieses Komponisten geschaffen. Das hat uns derart überzeugt, dass wir eine Uraufführung zum Thema Schostakowitsch in Auftrag gaben, um unserem Festival eine stilistisch ungewöhnliche Farbe hinzuzufügen.

JC Die Persönlichkeit von Schostakowitsch weckt großes Interesse bei modernen europäischen Musikwissenschaftlern. Essays und Monographien werden regelmäßig veröffentlicht. Was meinen Sie, was ist der Grund für diese nicht nachlassende Aufmerksamkeit?

SN Grundsätzlich haben wir es bei Dmitri Schostakowitsch mit einem der größten Komponisten der Musikgeschichte überhaupt zu tun, unabhängig von seiner Biographie. Aber da manches in seinem Leben unaufgeklärt ist, bleibt auch dieser Aspekt spannend für die Nachwelt.

JC Ist der Stress, der durch die Einschränkungen aufgrund der neuen Virusvarianten verursacht wird, spürbar?

SN Wir mussten zwei Jahre lang alles doppelt planen. Einmal für den normalen Spielbetrieb und einmal in Corona-Varianten, also für kleinere Besetzungen oder an anderen Orten, beispielsweise Open Air. Viele Formate wanderten in den digitalen Raum. Hinzu kamen die kurzfristigen Folgen der Pandemie, also Umbesetzungen wegen Erkrankungen und Reisebeschränkungen. Ohne Frage war manches spannend, aber insgesamt auch sehr belastend fürs Team.

JC Welche neuen Möglichkeiten haben sich für das Konzerthaus ergeben während der Pandemie? Hat die epidemiologische Situation einen Impuls für eine dynamischere Entwicklung digitaler Kommunikationsformate mit dem Publikum gegeben?

SN Unbedingt – da hat die Pandemie wie die Turbostufe gewirkt, denn der Kontakt mit unserem Publikum konnte so aufrecht erhalten bleiben. Wir haben zahlreiche Konzerte gestreamt.

Darüber hinaus sind digitale Kommunikationsformate schon seit einigen Jahren ein Thema, dem wir uns intensiv widmen. Neue mediale Zugänge zu Wissen anzubieten – darin liegt das enorme Potential digitaler Kulturvermittlung. Deren Merkmale Immersion, Interaktion und Partizipation werden in Zukunft noch stärker Vermittlungsansätze ergänzen. Dank der weitgehenden Mobilität der dazugehörigen Technologie sind sie in der Lage, einen fundamentalen Beitrag zu kultureller Teilhabe zu leisten. Das Konzerthaus bespielt regelmäßig die Social Media-Plattformen Facebook (организация, деятельность которой запрещена в РФ), Instagram (организация, деятельность которой запрещена в РФ), YouTube, Twitter und seit April 2021 auch die Live-Streamingplattform twitch.tv. Im Format „Spielzeit“ auf twitch.tv geben Mitglieder des Konzerthausorchesters Berlin  Einblicke in ihren Alltag. Das Konzerthausorchester Berlin ist als erstes Sinfonieorchester auf der ursprünglichen Gaming-Plattform aktiv. Und das mit beachtlichen Erfolg – seit dem ersten Livestream wurden 955.000 Views erreicht und 1.370 Nutzer*innen haben den Kanal abonniert. Bis zu 9.000 Zuschauer*innen sind in Echtzeit bei den monatlichen Livestreams dabei, wenn Musiker*innen des Konzerthausorchesters ihre Instrumente vorstellen, musizieren und über den Konzerthausalltag erzählen.

Dies geschieht im dauernden Austausch mit der Community: Über ein Chatfenster kommentieren die Zuschauer*innen das Geschehen, geben Feedback, stellen Fragen und tauschen sich aus. Durch diese Live-Interaktion wird das Spiel zu einem Gemeinschaftserlebnis und klassische Musik authentisch vermittelt. Während der Lockdowns haben wir auch für jüngere Kinder ein umfangreiches Online-Angebot aufgelegt, das unter dem Titel MachMitMusik zum Musikmachen, Singen, Lernen und Ausprobieren einlud.

JC Erzählen Sie uns von der Tradition, Künstler als „Artists in Residence“ einzuladen. Nach welchem Prinzip werden diese oder jene Künstler ausgewählt? (In Russland gibt es bisher keinerlei solche Praxis.)

SN Unsere „Artists in Residence“ sind nicht immer, aber häufig das, was man als „Shootingstars“ bezeichnen könnte – interessante Künstler*innen nach den ersten Schritten einer großen Karriere, wie aktuell die Brüder Lucas und Arthur Jussen, das niederländische Klavierduo. Sie geben bei uns während einer Saison quer durch die Säle und Konzertformate etwa 15 Konzerte. Spannend ist an diesem Konzept des „Artist in Residence“, dass man die Künstler*innen in all ihrer Vielseitigkeit richtig gut kennenlernen kann. Flankiert werden die Konzerte etwa durch Interviews, Social Media-Aktionen und Vermittlungskonzerte.

Unsere „Artists in Residence“ bleiben dem Haus auch nach „ihrer“ Saison eng verbunden. Das hat uns geholfen, während der Coronazeit spontan attraktive Konzerte auf die Beine zu stellen.

JC Welche Musiker, die noch nie auf der Bühne des Konzerthauses aufgetreten sind, würden Sie am liebsten einladen?

SN Zu gerne hätte ich Horowitz oder Dinu Lipatti live bei uns erlebt. Bei den heutigen Stars müsste ich wirklich lange überlegen, denn fast alle lebenden Stars waren schon bei uns auf der Bühne. Ein Traum wäre gewesen, die St. Petersburger Philharmoniker zu empfangen, bei denen Kurt Sanderling ja wie schon erwähnt viele Jahre zweiter Dirigent war. Leider musste das pandemiebedingt kurzfristig abgesagt werden.

Konzerthaus-Orchester mit Maestro Christoph Eschenbach

JC Sie sind seit dreizehn Jahren Intendant des Konzerthauses. Können Sie sagen, dass sich das Publikum in dieser langen Zeit verändert hat? Wie würden Sie das typische Konzerthaus-Publikum beschreiben?

SN Das Publikum ist ungemein treu und abonniert die Sinfoniekonzerte des Konzerthausorchesters Berlin oft über Jahrzehnte. Insbesondere unsere Schostakowitsch-Konzerte sind eigentlich immer voll! Durch neue Formate haben wir aber auch Menschen hinzugewonnen, die nicht zum typischen Abo-Publikum zählen.

JC Welcher Platz im Repertoire des Konzerthauses ist die Musik zeitgenössischer Komponisten und wie gefragt ist sie? Welche Maßnahmen ergreifen Sie, um diese Richtung zu entwickeln?

SN Hier muss man unterscheiden: Zeitgenössische Avantgarde-Musik hat es beim breiten Publikum auch weiterhin schwer und ist einer Nische daheim, die von speziellen Ensembles und Festivals bespielt wird. Die sogenannten New Classics wie Max Richter sind jedoch ebenso beliebt wie Minimal Music, beispielsweise von Philip Glass oder John Adams. Sie sind sehr gefragt. Auch Arvo Pärt begeistert unser Publikum, er war zum Festival Baltikum selbst hier. Wir unterstützen die zeitgenössische Musik mit eigenen Programmreihen wie den moderierten Konzerten „2 x hören ZEITGENÖSSISCH“ oder „Komponist*innenporträts”.